„Wir brauchen mehr Vorbilder mit Helm!“

Interview mit Dr. med. Julia Schmidt, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin

Dr. med. Julia Schmidt engagiert sich seit Jahren, speziell im Pferdesport, für das Tragen eines Helms. Über ihre Beweggründe und warum sogenannte Rotationsbewegungen dabei eine entscheidende Rolle spielen, haben wir ausführlich mit ihr gesprochen.


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Zur Person:

Dr. med. Julia Schmidt

Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin;

Stellv. Ärztliche Leitung am UKE Athleticum (Universitäres Kompetenzzentrum für Sport- und Bewegungsmedizin)


Weitere Tätigkeiten:
• Verbandsärztin des Landesverbandes der Reit- & Fahrvereine Hamburg e.V.

Spezialsprechstunde für Pferdesportler

Mannschaftsärztin zweier Hamburger Amateur-Fußballclubs


Dr. Schmidt, nehmen wir an, ich falle vom Pferd, stürze mit dem Rad oder stoße beim Fußball mit einem Gegenspieler zusammen – und mir brummt der Schädel. Sollte ich damit zum Arzt?

Ganz wichtig ist zunächst: Für eine Gehirnerschütterung braucht es keine Bewusstlosigkeit und keine Erinnerungslücke. Eine ärztliche Abklärung ist für mich daher klar geboten bei andauernden Kopfschmerzen, das heißt länger als 4 bis 6 Stunden nach dem Unfallereignis; außerdem bei Übelkeit und Erbrechen, bei Schwindel oder dem Gefühl, ein bisschen benommen zu sein sowie bei Konzentrationsschwierigkeiten. In all diesen Fällen gehört der Arztbesuch nicht auf Morgen verschoben, da gehört man in die Notaufnahme. Denn tatsächlich können auch vermeintlich harmlose Kopfverletzungen ernste gesundheitliche Folgen haben.


Was geschieht, wenn jemand mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung in die Praxis bzw. Klinik kommt?

Ich selbst lasse mir zunächst den Unfallhergang sehr genau beschreiben. Dann folgt unter anderem eine neurologische Untersuchung sowie das Überprüfen bestimmter motorischer Fähigkeiten und der Koordination. Hausärzt:innen haben in der Regel keine Möglichkeit, zur weiteren Abklärung eine Computertomographie durchzuführen. Deshalb liegt ihre besondere Verantwortung darin, zu entscheiden, bei welchen vorangegangenen Untersuchungsergebnissen sie Betroffene für ein Schädel-CT in die Notaufnahme einer Klinik überweisen. Dass die Diagnose insgesamt eine große Herausforderung ist, zeigt ein Zitat der Brain Foundation: ‚Das am wenigsten registrierte, zu selten diagnostizierte und am meisten unterschätzte Schädelhirntrauma ist bei weitem die Gehirnerschütterung.‘

Wenn die Diagnose gestellt ist: Wie behandelt man ein leichtes Schädelhirntrauma (SHT) richtig?

Man sollte sich vor allem schonen. In diesem Fall heißt das: nicht zur Arbeit gehen, nicht fernsehen, nicht lesen – alles, was das Gehirn anstrengt, gilt es zu vermeiden. Etwa eine Woche lang, in Absprache mit dem Arzt/der Ärztin auch länger. Und das bitte nicht nur, wenn Schmerzen auftreten! Manchmal berichten Patient:innen nach einer Kopfverletzung etwa, dass sie unkonzentriert sind, unter Stimmungsschwankungen leiden oder ungewohnt nah am Wasser gebaut sind. Auch solche psychischen Symptome senden die Botschaft: Schone dich!

Wenn auch leichte SHT ernste Folgen haben können, sollten wir unseren Kopf wohl bestmöglich schützen. Ist das Tragen eines Helms deshalb umso wichtiger?!
Ja, ich setze mich seit Jahren dafür ein. Vor allem im Bereich des Reitsports. Ich habe mich zum Beispiel dafür ausgesprochen, dass auch bei der Dressur, wo bis vor kurzem noch mit Zylinder geritten wurde, eine Helmpflicht eingeführt wird. Inzwischen ist diese Regelung zum Glück eingeführt und gilt auch für die großen Championate. Denn selbst wenn das Risiko für Kopfverletzungen in diesem Bereich vermeintlich gering ist, fürs Reiten gilt: Es ist nicht die Frage, ob etwas passiert, sondern wann. Und eine Studie zeigt, dass das Risiko für schwere Schäden am Kopf durch das Tragen eines Helms – nicht nur beim Reiten – um bis zu 50% reduziert werden kann. Man hat keinen garantierten Schutz, aber doch ein absolut überzeugendes Argument für den Helm.

Sogenannte Rotationsbewegungen gelten bei Unfallgeschehen mit Beteiligung des Kopfes als besonders gefährlich – warum?
Wir unterscheiden verschiedene Verletzungsarten. Typisch ist das direkte Anpralltrauma, etwa durch einen Schlag oder Stoß. Das Gehirn hat durch die Flüssigkeit, in der es schwimmt, einen gewissen Puffer. In harmlosen Fällen brummt nur kurz der Kopf, bei hoher Intensität kann es aber auch zu Schädelbrüchen oder zu Gefäßverletzungen zwischen Schädeldecke und Gehirn kommen. Das Problem ist ja, dass das Gehirn komplett von Knochen umschlossen ist. Es hat, im Gegensatz zu anderen Organen, keinen Platz um bei Druckproblemen auszuweichen.

Daneben gibt es noch eine andere Art von hirnorganischen Schädigungen. Wenn ich zum Beispiel mit einer großen Beschleunigung irgendwo auftreffe, und dies passiert im Falle eines Sturzes, zum Beispiel vom Pferd oder mit dem Rad, meistens schräg, dann bewegen sich verschiedene Strukturen des Gehirns gegeneinander, und diese Rotationsbewegungen können erhebliche Schäden verursachen.

Was genau passiert bei Rotationsbewegungen im Gehirn?

Das Gehirn ist sehr komplex aufgebaut, unter anderem aus Millionen ganz feiner Axone, das sind die Fortsätze der Nervenzellen. Durch Rotationsbewegungen kommt es zu einer Art Abscherverletzung dieser Strukturen im Gehirn, das bedeutet, Nervenverbindungen und unter Umständen auch Blutgefäße zerreißen regelrecht. Das kann man im fein auflösenden MRT tatsächlich sehen – und das sind häufig wirklich schwere Verletzungen.

Und dieses Zerreißen passiert weniger, wenn es zu einer direkten, gewissermaßen senkrechten Einwirkung auf den Kopf bzw. den Helm kommt?

Genau, Anpralltraumata führen eher zu einer sogenannten Contre-Coup-Verletzung. Das heißt, bei einem Stoß von vorn prallt das Gehirn hinten gegen die Schädelkalotte und nimmt damit auf der Gegenseite des eigentlichen Anpralls Schaden. Die Verletzung resultiert gewissermaßen aus der Abbremsbewegung. Da kann es, wie gesagt, zu Brüchen und Blutungen kommen, schwerer wiegen aber häufig die Abscherverletzungen, das Zerreißen von Gehirngewebe. Man kann das, stark vereinfacht, mit einer Muskelverletzung vergleichen. Ein Muskelfaserriss ist in der Regel eine langwierigere Verletzung als ein Pferdekuss.

Wie kann man sich vor Rotationsbewegungen gezielt schützen?

Es gibt Sporthelme, in die ist das sogenannte Mips-System integriert, das genau diese Rotationsbewegungen relativieren soll. Wie gut das im Einzelfall schützt, kann ich nicht sicher beurteilen, aber das Wirkprinzip ist biomechanisch und physikalisch schlüssig, und es gibt eine Reihe von Tests dazu. Hier gilt letztlich das gleiche wie für den Sicherheitsgurt und den Airbag. Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz. Aber niemand zweifelt daran, dass es Rotationsbewegungen gibt, und deshalb begrüße ich, auch aufgrund meiner Erfahrung mit schweren Kopfverletzungen, Entwicklungen, die dieses Problem zumindest reduzieren.

Würden Sie aus all den genannten Gründen für eine weitergehende Helmpflicht im Sport und Straßenverkehr plädieren?

Grundsätzlich kann ich mir das vorstellen. Aber bis es dazu kommt, sollten wir vor allem die Vorbildfunktion stärker betonen. Eltern sollten zum Beispiel beim Radfahren nicht nur ihren Kindern einen Helm aufsetzen, sondern auch sich selber. Und ich komme ja aus dem Reitsport, auch da sieht man leider immer noch viele Ausbilder, die ohne Kappe daherkommen. Und das, obwohl rund 30% der Verletzungen im Reitsport den Kopf betreffen, und 10% davon sind Schädelhirntraumata!

Wir brauchen einfach überall noch mehr positive Vorbilder, damit das Helmtragen bei möglichst vielen risikobehafteten Aktivitäten zum Selbstverständnis wird, so wie etwa im alpinen Skisport.

Und mal abgesehen vom Sicherheitsaspekt: Viele Helme sind mittlerweile so gut entwickelt, etwa was den Tragekomfort oder die Belüftung angeht, und sie sehen oft sogar schick aus – auch aus dieser Perspektive spricht alles für den Helm.

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